- Rousseau: Über das Kind und seine Erziehung
- Rousseau: Über das Kind und seine ErziehungDas Jahrhundert der Aufklärung hat nicht nur mit der politischen Revolution und der »kopernikanischen Wende« Kants von der Erkenntnis der Dinge zur Kritik der Bedingungen menschlicher Erkenntnis eine Umwälzung vollzogen, sondern auch mit einer pädagogischen Umorientierung. Man versuchte nicht mehr, das Kind auf den Erwachsenen zu beziehen und ihm sein Kindsein auszutreiben oder sanfter abzugewöhnen, sondern bezog die Erziehung auf einen Zustand eigenen Rechts, als den man die Kindheit erkannte. Auch vorher schon hatte es liebevolle Pläne zur Erziehung gegeben; bereits Montaigne hatte in den »Essays« (1580) seine eigene, auf individuelle Autonomie ausgerichtete Erziehung geschildert, deren Methoden auf das Italien der Renaissance wiesen. Aber erst Rousseau postulierte die Güte des Menschen als Prinzip der Erziehung. Vorsichtig und weise solle der Erzieher sein, nicht gegen die Neigungen des Kindes ankämpfen, sondern sie behutsam korrigieren, so wie man einen Garten mit geringen Eingriffen natürlich wachsen lassen solle. Der frühe Mensch, der Wilde außerhalb unserer Institutionen und das Kind, seien die lebendigen Beweise dafür, dass der Mensch im Grunde gut ist. Seine Vernunft gelte es zu entwickeln; dadurch werde sich ein Leben führen lassen gemäß der Natur, nahezu ohne Krankheiten und ebenso ohne Leidenschaften.Doch gibt es in Rousseaus erzählerisch angelegtem pädaogischen Lehrbuch »Émile, oder über die Erziehung« durchaus Inkonsequenzen; das hohe Ideal der Natürlichkeit wird zuweilen zu flacher Nützlichkeit herabgemindert, der Erzieher zum Versteckspiel angehalten, wenn es darum geht, dem Kind unpassende Erfahrungen vorzuenthalten, und er erzieht wohl eher zu leerer Allgemeinheit als zu kreativer Tätigkeit. Aber alle Einseitigkeiten und Übertreibungen dürfen nicht den Blick auf Rousseaus Leistung verdecken: »Émile« eröffnete einem an sich selbst irre gewordenen Jahrhundert die Einsicht, dass eine Erneuerung von innen heraus zu geschehen habe. Seine Pädagogik vertraut der kindlichen Reinheit der Sinne, hält das Kind zur Selbsttätigkeit und nicht zur Gedächtnisbelastung mit (unverstandenem) Wissen an, und sie setzt außer einer Religion des Herzens und einem Leben gemäß der Natur die Idee eines kindlichen Verhaltens voraus, zu dem die spielerische Erfahrung der Welt gehört.Der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi schöpfte aus RousseausBuch alle Begeisterung für sein eigenes Werk der Erziehung und ließ sich dadurch zu neuen Ideen inspirieren; dennoch nannte er es später ein »Traumbuch«. Es war zu unwirklich, zu überschwänglich, um als Anleitung dienen zu können, aber das galt nicht minder für andere wirkmächtige Bücher. Rousseau hatte lange am »Émile« gearbeitet und veröffentlichte ihn 1762 fast gleichzeitig mit dem »Gesellschaftsvertrag«. Der Gedanke der Erziehung war aus der Kritik an den fortgeschrittenen Stadien der Zivilisation und an der menschlichen Ungleichheit entwachsen. Die Erziehung sollte das berichtigen, was die Institutionen gewaltsam aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Gesellschaftskritik bildete für Rousseau und die von ihm angeregten Erzieher den systematischen Hintergrund und die genetische Einheit pädagogischer Gedanken. Die Erziehung soll am Einzelnen das vollbringen, was die politische Philosophie des »Gesellschaftsvertrags« für die staatlichen Gemeinschaften bietet. Die verloren gegangene Einheit und Harmonie des Einzelnen, seine innere Übereinstimmung mit sich selbst wiederherzustellen ist ihr Ziel, die »Volonté générale«, der allgemeine Wille, der den Einzelnen nicht mechanisch mit den Übrigen verknüpft, sondern durch den der einzelne erfährt, was er in Wahrheit will und wollen soll, ist das pädagogische Leitmotiv.Dazu gehört auch die Erneuerung der Religion durch das Gefühl. Im »Émile« führt der Erzieher seinen Zögling an einem Sommermorgen bei Sonnenaufgang aus der Stadt Turin auf eine Anhöhe, wo er ihn im Angesicht der schönsten Natur sein »Glaubensbekenntnis« lehrt. Rousseaus religionsphilosophischer Kampf ging in zwei Richtungen: gegen den vernunftgeborenen Deismus und Materialismus der »Philosophen«, von denen er sich inzwischen ausgestoßen fühlte, und gegen den Offenbarungsglauben der Kirche. Er verdarb es sich mit beiden Parteien, um der von ihm gefühlten Wahrheit die Ehre zu geben. Aber so fern stand er seinen Kollegen der Philosophie gar nicht. Im Verlauf der langen Debatte über die Rechtfertigung Gottes angesichts des grausamen Laufs der Welt, die sich an das Erdbeben von Lissabon von 1755 anschloss, kamen Voltaire, gegen den Rousseau polemisierte, und Kant zu einem übereinstimmenden Ergebnis: Die Existenz des Menschen lässt sich nicht auf die denkerische Erklärbarkeit der Welt, sondern umgekehrt lässt sich nur das, was wir von der Welt denken, auf unser Dasein gründen. Der Mensch ist um des Ganzen willen da. Daher beruht, so hatte es auch schon Pierre Bayle in Übereinstimmung mit der Weisheit des Buchs Hiob gewollt, die Moralität nicht auf dem Glauben, sondern der Glaube auf der Moralität. Nur durch moralisches Handeln kann sich der Mensch der Freiheit und damit der Wirklichkeit der Ideen der Vernunft, also auch Gottes, vergewissern. Darin vollendete sich die Philosophie der Aufklärung. Als viele auswärtige Beobachter an der Französischen Revolution zu zweifeln begannen und das Volk für unreif zum Gebrauch der Freiheit erklärten, verteidigte Kant die Sache: man könne zur Freiheit nicht reifen, »wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist«. Die ersten Versuche würden roh und auch gefährlich sein, »allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche«. Die Erziehung muss also das beginnen, was zur Bildung des Menschen und zum gerechten Handeln in einem Gemeinwesen führen soll; die Bedingung hierfür ist Freiheit. Wenn man den Gang des Menschengeschlechts im Ganzen als Erziehung betrachten kann, so muss sie doch bei jedem Einzelnen beginnen.Die Philosophie der Aufklärung hat das Kind entdeckt und die Kindheit erfunden. Die Umsetzung gedanklicher Prinzipien in die Praxis war dadurch noch nicht erledigt. Wo Liebe und Weisheit rar waren, versuchte man erst einmal, den Stand der Erzieher zu heben, ihm eine neue Würde zu verleihen und sichere Besoldung zu gewähren. So gefährlich pädagogische Experimente mit Kindern auch sein mochten, die Erziehung musste von vorn beginnen. Wenn Aufklärung sich in klaren Begriffen äußerte, so setzte die neuere Pädagogik nach wohl gemeinten Fehlversuchen Basedows und anderer erst mit Pestalozzis elementarer Methode ein. Da die begriffene Welt auch dem Kind erläutert werden kann, schrieb Karl Philipp Moritz schließlich eine »Kinderlogik« (1786), worin er von dem Ordnen der Dinge und Wörter zu den Kategorien des Denkens, zu den Begriffen und Ideen, behutsam heranführt. Die Bedingungen der Erkenntnis, die Kant gerade geklärt hatte, sollten dem Kind nicht verschlossen bleiben. Und es sollte lernen - was in der Folge so leicht vergessen wurde -, dass es selbst denken muss. Aufklärung ist durch nichts seither überwunden worden. Sie setzt ihre Aufgabe hoch an und beginnt sie ganz bescheiden, in den ersten Lebensjahren des Menschen. Aber stets geht es ihr darum, Vernunft und Freiheit zu verwirklichen.Prof. Dr. Horst GüntherGeschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 8: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 2. Von Newton bis Rousseau. München 1984—89.Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert.München 1996.
Universal-Lexikon. 2012.